Sicherheit durch Chaos? Wie die Reduktion von Regeln die Aufmerksamkeit und damit die Sicherheit erhöht
In komplexen sozio-technischen Systemen gilt Regelkonformität traditionell als zentraler Pfeiler der Sicherheit. Gleichzeitig wächst die Erkenntnis, dass eine übermäßige Regeldichte nicht nur ineffizient ist, sondern in bestimmten Kontexten sogar die situative Aufmerksamkeit und Handlungsfähigkeit der Beteiligten mindern kann. Der vorliegende Beitrag untersucht aus arbeitspsychologischer Perspektive, wie gezielte Regelreduktion paradoxerweise zu einem Sicherheitsgewinn führen kann.
Menschen neigen dazu, in hochregulierten Umgebungen Routinen zu entwickeln, die auf Automatismen beruhen. Diese sogenannten „Rule-based Behaviors“ (Rasmussen, 1983) ermöglichen effizientes Handeln, reduzieren jedoch die kognitive Wachsamkeit und führen zur Vernachlässigung abweichender oder unvorhergesehener Signale. In sicherheitskritischen Bereichen – wie Luftfahrt, chemische Industrie oder IT-Security – kann diese Routinisierung fatale Folgen haben. Studien zeigen, dass das Brechen von Regeln häufig nicht aus Fahrlässigkeit, sondern aus der Anpassung an reale Anforderungen erfolgt (Dekker, 2011). Eine zu starre Regelstruktur führt somit nicht nur zu „Work-as-imagined“-Illusionen im Management, sondern fördert auch Schattenpraktiken, die den offiziellen Prozessen widersprechen, aber das System am Laufen halten.
Ein alternativer Ansatz basiert auf der Idee einer adaptiven Sicherheitskultur, in der Mitarbeitende nicht nur Regeln ausführen, sondern Sicherheitsverantwortung aktiv übernehmen. Dies erfordert psychologische Sicherheit, ein Verständnis für Systemzusammenhänge und das Vertrauen, dass Entscheidungen auch jenseits starrer Vorschriften legitimiert werden können (Weick & Sutcliffe, 2015). Regelreduktion – verstanden als gezielte Befreiung von unnötigen oder dysfunktionalen Vorschriften – erhöht die Aufmerksamkeit, weil Mitarbeitende gezwungen sind, sich mit der tatsächlichen Situation auseinanderzusetzen. Dabei entsteht eine Form von „mindful organizing“, die Resilienz stärkt und mit Safety-II-Konzepten kompatibel ist (Hollnagel, 2014).
Zentrale Voraussetzung für diesen Wandel ist eine organisationale Haltung, die Irritation zulässt, Fehler als Lernimpuls betrachtet und Führung nicht als Kontrolle, sondern als Orientierung versteht. Regelreduktion bedeutet daher nicht Beliebigkeit, sondern Relevanzfokussierung. Sie stellt die Frage: Welche Regeln helfen wirklich – und welche sind bloß Sicherheitsillusion?
Literatur
Dekker, S. (2011). Drift into failure: From hunting broken components to understanding complex systems. Ashgate Publishing, Ltd.
Hollnagel, E. (2014). Safety-I and Safety-II: The past and future of safety management. Ashgate.
Rasmussen, J. (1983). Skills, rules, and knowledge; signals, signs, and symbols, and other distinctions in human performance models. IEEE Transactions on Systems, Man, and Cybernetics, (3), 257–266. https://doi.org/10.1109/TSMC.1983.6313160
Weick, K. E., & Sutcliffe, K. M. (2015). Managing the unexpected: Sustained performance in a complex world (3rd ed.). Wiley.