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Die psychologische Konstruktion von Bedrohung: Kognitive Verarbeitung und soziale Wirklichkeit sicherheitspolitischer Narrative

In modernen Gesellschaften ist die Wahrnehmung von Bedrohungen ein zentrales Moment politischer Steuerung und gesamtstaatlicher Sicherheitsvorsorge. Während Risiken mithilfe quantitativer Modelle berechnet werden können, ist Bedrohung immer auch ein psychologisches und soziales Konstrukt. Die Kognitionspsychologie, die Sozialpsychologie und die Politikwissenschaft haben wiederholt gezeigt, dass Bedrohung nicht einfach „da draußen“ existiert, sondern durch Wahrnehmung, Emotion, Sprache und Narrative erzeugt, verstärkt oder abgeschwächt wird (Slovic, 2000; Entman, 1993). Diese Konstruktion hat tiefgreifende Folgen: Sie beeinflusst individuelle Entscheidungsprozesse, das Verhalten von Organisationen und die Legitimation staatlicher Maßnahmen. Ziel dieses Beitrags ist es, die psychologischen Mechanismen der Bedrohungskonstruktion zu beleuchten und ihre Bedeutung für die Sicherheitsvorsorge zu diskutieren. Risiko versus Bedrohung Ein zentraler Unterschied liegt zwischen Risiko und Bedroh...
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Zukunftssicherung statt Klimaschutz: Psychologische Perspektiven auf sprachliche Rahmung ökologischer Verantwortung

Die öffentliche Diskussion rund um den Klimawandel wird seit Jahrzehnten von Begriffen wie „Klimaschutz“ dominiert. Dieser Terminus hat sich in politischen Programmen, medialen Diskursen und Alltagsgesprächen etabliert. Gleichwohl ist aus psychologischer Sicht zu fragen, ob der Begriff seine intendierte Wirkung entfaltet oder ob er kognitive Verzerrungen und semantische Missverständnisse hervorruft. „Klimaschutz“ suggeriert, dass das Klima als stabiles, externes Objekt geschützt werden könne. Dies blendet aus, dass es sich um ein komplexes, dynamisches System handelt, das sich permanent wandelt – unabhängig menschlicher Eingriffe. Was der Begriff verschleiert, ist die zentrale Rolle des Menschen: Nicht das Klima bedarf des Schutzes, sondern die Lebensgrundlagen der Menschheit. In der kognitiven Linguistik ist bekannt, dass sprachliche Rahmungen („Frames“) die Interpretation von Sachverhalten strukturieren (Lakoff, 2014). Wird von „Klimaschutz“ gesprochen, liegt der Fokus auf einem abs...

Posttraumatische Belastungsstörung: Entstehung, Behandlung, berufsbezogene Besonderheiten und neue Technologien

Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) definiert als ein Syndrom, das nach der Exposition gegenüber einem extrem bedrohlichen oder schrecklichen Ereignis entsteht. Typisch sind das Wiedererleben des Traumas in Form von belastenden Erinnerungen, Albträumen oder Flashbacks, das anhaltende Vermeiden traumaassoziierter Gedanken, Gefühle und Situationen sowie ein anhaltendes Gefühl von aktueller Bedrohung, das sich in erhöhter Schreckhaftigkeit und übermäßiger Wachsamkeit äußert (WHO, 2019). Entstehung Die Entwicklung einer PTBS wird durch ein Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren bestimmt. Genetische Dispositionen, neurobiologische Dysregulationen (z. B. Hyperaktivität der Amygdala, Dysfunktion der HPA-Achse), Coping-Stile, Vorerkrankungen sowie soziale Unterstützung oder deren Fehlen modulieren das Erkrankungsrisiko (Yehuda & Lehrner, 2018). Diagnose Traditionell erfolgt die Diagnos...

Big Five und künstliche Intelligenz – Sinn, Grenzen und Perspektiven

Das Persönlichkeitsmodell der Big Five gilt in der Psychologie als eines der robustesten und empirisch am besten abgesicherten Konzepte zur Beschreibung individueller Unterschiede (John, Naumann & Soto, 2008; McCrae & Costa, 2003). Die Dimensionen Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Offenheit für Erfahrungen erfassen stabile Dispositionen menschlichen Erlebens und Verhaltens, die in vielfältigen Kontexten als Prädiktoren für Leistung, Wohlbefinden oder soziale Interaktion untersucht wurden. Mit der zunehmenden Allgegenwart künstlicher Intelligenz (KI), insbesondere großer Sprachmodelle (LLMs) und darauf basierender Chatbots und Agenten, stellt sich die Frage, ob und in welchem Maße es sinnvoll ist, das Big-Five-Konzept auf diese Systeme zu übertragen. Zunächst gilt es zu klären, dass KI-Systeme wie LLMs keine psychologischen Entitäten im klassischen Sinne darstellen. Sie verfügen weder über ein Selbstkonzept noch über ein biologisch fundiertes...

Das kollektive Unbewusste im Netz – Von Freud über Jung zur digitalen Erweiterung

Die psychoanalytische Tradition, wie sie von Sigmund Freud begründet und von Carl Gustav Jung weiterentwickelt wurde, kreist um den Kern menschlicher Subjektivität: das Unbewusste. Während Freud das Unbewusste vor allem als Speicher verdrängter Wünsche, Konflikte und Affekte begriff (Freud, 1915/2000), erweiterte Jung diese Perspektive um die Idee eines „kollektiven Unbewussten“. Dieses sollte nicht nur individuelle Erfahrungen enthalten, sondern universale, archetypische Muster, die allen Menschen gemeinsam sind (Jung, 1959/2014). Im 21. Jahrhundert stellt sich die Frage, ob und inwiefern diese Konzepte auf die digitale Vernetzung unserer Gegenwart übertragbar sind. Das Internet bildet zunehmend nicht nur einen Raum für Kommunikation und Information, sondern einen emergenten Speicher kollektiver Erfahrung. Durch Plattformen, soziale Medien und algorithmische Strukturen entstehen Muster kollektiver Bedeutungsproduktion, die Jungsche Archetypen in digitaler Form spiegeln: Memes als Ve...

Wird unser Denken durch die Nutzung von KI verkümmern? Eine psychologische Analyse

Die zunehmende Integration Künstlicher Intelligenz (KI) in unseren Alltag hat nicht nur ökonomische und technologische Konsequenzen, sondern wirft auch grundlegende Fragen zur kognitiven Entwicklung des Menschen auf. Während KI-Systeme menschliches Denken unterstützen und entlasten können, besteht zugleich die Befürchtung, dass unser Denken durch ihre Nutzung langfristig verkümmern könnte. Diese Sorge berührt zentrale psychologische Theorien zur Kognition, zum Lernen und zur Abhängigkeit von Werkzeugen. Aus kognitionspsychologischer Perspektive kann Denken als ein Prozess der Informationsverarbeitung verstanden werden, der auf Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Problemlösen und Urteilsbildung basiert (Anderson, 2010). Die Auslagerung dieser Funktionen an KI-Systeme birgt die Gefahr des „kognitiven Outsourcings“. Studien zum „Google-Effekt“ zeigen bereits, dass Menschen weniger Fakten im Gedächtnis behalten, wenn sie darauf vertrauen können, diese jederzeit online nachzuschlagen (Sparrow, Liu ...

Digitale Unsterblichkeit? Eine psychologische Analyse der Digital Afterlife-Industrie

Die digitale Transformation des Todes ist keine Science-Fiction mehr. Die sogenannte „Digital Afterlife“-Industrie verspricht Hinterbliebenen Trost durch digitale Abbilder Verstorbener, etwa in Form von Chatbots, Avataren oder virtuellen Gedenkräumen. Was einst Grabstein und Fotoalben leisteten, übernehmen heute KI-Systeme, die aus Textnachrichten, Sprachnachrichten und Social Media-Profilen rekonstruiert wurden. Diese Entwicklung wirft nicht nur technologische und ethisch-rechtliche Fragen auf, sondern berührt auch tiefgreifende psychologische Dimensionen: Wie verändert sich Trauer, wenn der Verstorbene nicht wirklich verschwindet? Was macht es mit unserer Identität, wenn unser digitales Selbst überdauert? Technologisch basiert die Digital Afterlife-Industrie auf Natural Language Processing (NLP), generativen KI-Modellen und multimodaler Datenaggregation. Systeme wie „Replika“ oder „HereAfter AI“ nutzen Chatverläufe, Videos und Tonaufnahmen, um digitale Repräsentanzen zu erschaffen,...